Verzeihen – Zwischen Schilf und Schuldgefühlen

Uferbewachsung an einem Weiher

Über die Frage, wie es möglich ist, (sich selbst) zu vergeben.

Wir stehen  am Ufer eines wunderschönen kleinen Altwassersees.

Grelles Sonnenlicht bricht das graue Herbstwetter, um dann wieder von einem sanften Regenschauer auf den Grund des moorastigen Wassers gedrückt zu werden. Um uns herum klimpert Schilf und hin und wieder springt ein Fisch.

Ich genieße das nasskalte Platzen der Tropfen auf meinen Haaren, meinem Gesicht und Händen, während mein restlicher Körper unter einem Zeltverband aus Regejacke, -hose und Gummistiefeln, nur ihr Pochen spürt.

Mein Liebster hat mir die Kleider heute Morgen spontan aus seiner Altgaderobe zusammengestellt und dabei seine Jacke und Stiefel mit der abgetragenen Hose eines ein-Meter-neunzig-plus-großen Freundes ergänzt. Für meine 1,71 also deutlich zu groß, aber definitiv luftig gemütlich und warm.

Ich mag den Gedanken, alte Sachen zu tragen, die irgendwann schonmal irgendwem gedient und mit Freude erfüllt haben und jetzt, anstatt weggeschmissen zu werden, noch einmal einen wertvollen Nutzen erfüllen. Es fühlt sich an, wie eine Geschichte zu tragen, die sich noch einmal erzählen darf, noch einmal gehört werden darf, um dann in ein neues Abenteuer mitgenommen zu werden. Und natürlich ist es nachhaltig ökonomisch und ethisch. Das mag ich ganz besonders.

Von moralisch perfekt bin ich trotzdem ganz weit entfernt, immerhin stehen wir hier mit zwei ausgeworfenen Angeln. Das mit meinem zumindest vegetarischen, ehemals sogar veganen Herzen und meiner Energiearbeit zu vereinen, hat mich durch eine Sintflut moralischer Konflikte getrieben und bis heute weiß ich, dass es eigentlich nicht vereinbar ist und tue es trotzdem. Ich sage mir, dass wir zumindest penibel darauf achten, den Fischen neben dem Angelschock keinen zusätzlichen Stress und Schmerz zubereiten, aber eine wirkliche Rechtfertigung ist das natürlich nicht. Ich habe damit meinen Frieden geschlossen, kann mir selbst diese Entscheidung verzeihen, spüre Freude, wann immer es zum Angeln geht.

Nur diesmal ist es anders. Trotz des wunderbaren Wechsels von sonnengeflutetem Wind und wolkenverhangenen Regen auf meiner Haut. Trotz der wilden Idylle, die uns umgibt.

Da ist etwas, das an meinem Herzen reißt, an einer tiefvergrabenen Schuld am Grund meiner Seele. So laut und unausweichlich, dass sich alles in mir zusammenzieht. Das Bellen von Hunden hallt durch die Luft. Lässt sie zittern. Lässt mich zittern.

„Oh, das kommt vom Tierheim.“, murmle ich und mein Liebster nickt. Das Toben in mir kann er nicht hören. Er kann es nicht wissen. Ich habe es ihm nie erzählt. Ich habe es schon lange niemandem mehr erzählt.

Ich wusste nicht, wie sehr ich mich noch dafür verachte.

Ich hatte eine Wahl. Und ich habe mich für den leichteren Weg entschieden.

Gegen Yukon.

Er ist wenige Monate später an einem Fuchsbandwurm gestorben. Geliebt, in den Armen seines neuen Menschenbegleiters. Zumindest habe ich mir das gesagt: „geliebt“. Ein Teil von mir hat die Angst behalten, dass sein neues Zuhause ihm nur einfach doch nicht gewachsen war. So wie ich es nicht gewesen bin. Geliebt habe ich ihn. Unendlich.

In ein Tierheim konnte ich ihn nicht geben. Ich wüsste, er würde dort nicht verstanden. Nicht weil Tierheime etwas Schlechtes sind, sondern einfach, weil er eine Pflanze war. So wie ich. Eine Pflanze, deren Struktur kaum jemand verstand. Nicht einmal ich endgültig. Eine Pflanze, die in voller Pracht geblüht hat, wenn sie wirklich gesehen wurde, wenn sie den Raum bekam, sich zu entfalten. Aber eben auch eine Pflanze, die sich ganz leicht zertreten ließ und anders als ich, die ich stets nach Innen zerfiel, zerbarst er ins Außen.

Er war bereits fünf Monate alt, als er aus Rumänien zu mir kam. Die Jahre davor habe ich mir unzählige Videos über artgerechte Hundeerziehung und -haltung angeschaut, Buch um Buch zur glücklichen Hunde-Menschen-Beziehung verinnerlicht. Ich habe mich mit, wie ich glaubte, allen erdenklichen Problem und ihren Lösungen auseinandergesetzt und war überzeugt mehr als vorbereitet, mehr als kompetent genug zu sein, um ihm das perfekte Zuhause zu bieten.

Als er zu mir kam, war er völlig verängstigt. Ich habe monatelang alles darangesetzt, ihm jede Unterstützung zu geben, um Sicherheit zu erfahren. Habe an mir selbst gearbeitet, mehrere Stunden wöchentlich mit einer Hundetrainerin verbracht und mit Aufgaben, die ihm Selbstbewusstsein und Freude verliehen. Mein Leben drehte sich nur noch um ihn und die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam weitergehen konnten. Alleine bleiben konnte er trotzdem nie und obwohl wir dutzende positive Hundekontakte pflegten, brach er immer wieder in aggressive Panik aus, wenn wir Artgenossen begegneten.

Jeden Tag gab es diese Momente in denen wir Gesicht an Gesicht, mit dem Atem des jeweilig anderen an unseren Wangen, nebeneinander lagen. So verbunden. So erfüllt. So viele Momente in denen wir gemeinsam die Freude jagten, einfingen und Stunden in ihr schwelgten. Momente wie hier am See, Stunden im nassen Gestrüpp auf der Spur von Abenteuern. Ich in Regenhose und Gummistiefeln und er der Schalk beseelte Wolf an meiner Seite.

Als ich nach einer Trennung ohne Wohnung dastand, fand ich mit ihm keine neue – nicht allein, weil er Türrahmen, ja ganze Türen zerlegte, sobald ich eine Wohnung ohne ihn verließ, sondern ganz einfach deshalb, weil große Hunde in vielen Mietwohnungen nicht gern gesehen sind.

Im selben Atemzug endete mein Jobverhältnis. Die Angebote, die ich an dessen Stelle bekam, erlaubten keinen Hund und schließlich wurde ich – nach einer weit längeren Odyssee als hier beschrieben, krank. So sehr, dass ich kaum mehr als drei Schritte am Stück gehen konnte. Meine Mutter unterstütze mich beim Gassigehen. Sie war die Einzige, die freiwillig mit ihm nach draußen ging und das nur eine Handvoll Wochen nachdem sie ihren Mann, meinen Vater, am Sterbebett gehen hatte lassen. Als also genug anderes zu tun und zu verarbeiten war.

Es war genau dieses Tierheim, das ich in meiner Not aufgesucht habe. Mein Herz schreit noch immer, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. An ihn in der Box hinten im Auto, während ich ausstieg, um sein Schicksal zu besiegeln. Sekunden später wusste ich, er würde dort eingehen und entschied, stattdessen weiterhin nach einer Privatperson zu suchen. Jemanden, der ihm zumindest ansatzweise gerecht werden konnte. Wochen vergingen bis ich jemanden fand. Er hatte zwar nicht die Erfahrung, aber zumindest den Willen, das Herz und den Grund, um Yukon ein gutes Zuhause zu bieten.

Aber so oder so, ich habe aufgegeben und mein Versprechen gebrochen, immer für ihn da zu sein. Am Schluss war es für mich leichter, mich für mich selbst zu entscheiden.

Das ich Yukon weggegeben habe, konnte ich mir nicht verzeihen, dafür nach und nach verdrängen. Ich habe mir damals verboten jemals wieder eine solche Verantwortung einzugehen. Gelernt, dass ich so eine Verantwortung nicht mehr tragen will. So sehr er mir manchmal fehlt.

Kurz darauf eine Freundin zu finden, die eine anders-ähnliche Geschichte mit mir teilte, heilte einen Teil meiner Schuldgefühle.

Verstanden zu werden ist Balsam und sich selbst durch den Blick auf jemand anderen zu verstehen genauso.

Meine Arroganz und Urteile, die ich zuvor Menschen entgegengebracht hatte, die sich für diesen Weg entschieden, ist aufgeweicht. Ich habe gelernt öfter über den Tellerrand hinaus zu blicken.

Die Stärke und Hilfe meiner Mutter haben sich wie ein Leuchtfeuer in mein Bewusstsein gebrannt und mich mit lodernder Dankbarkeit erfüllt.

Trotzdem, das Gefühl, ja, Trauma, das mit diesem Wegabschnitt meines Lebens einhergeht, scheint noch immer in meinem Körper gespeichert und die Nähe jenes Tierheims, das Bellen der Hunde dort, die auch Yukon hätten sein können, hat es wieder befreit. Was also jetzt?

Ich habe das Gefühl, dass ich mich wieder entscheiden kann. Vielleicht geht das nicht immer, aber in diesem Fall, fühlt es sich so an.

 

Ich erlaube es mir, diese Schuldgefühle loszulassen.

Ich akzeptiere, dass ich mir selbst wichtig bin, manchmal wichtiger.

Ich bin froh, dass dieser Schuldschmerz zumeist schweigt und meine Dankbarkeit für unsere gemeinsame Zeit dem überwiegt.

Ich erinnere mich daran, behutsamer und wertfreier mit den Entscheidungen anderer umzugehen.

Ich mag den Gedanken, dass Yukon jetzt an einem besseren Ort ist.

Ich liebe es, dass seine Seele mich besucht hat. Mich so reich beschenkt hat.

Ich mache weiterhin Fehler und bemühe mich doch, an anderer Stelle Licht in die Welt zu geben.

 

Gerade während ich schreibe zum Beispiel, sitzt ein alter Kater vor der Küchentür meiner Mutter. Er lebt schon seit Jahren wild in unserer Nähe. Gezeichnet von Kämpfen und Krankheiten mit abgebissenem Ohr und zerfetztem Fell. Seit ein paar Wochen versorgen wir ihn. Erst aus der Ferne, jetzt traut er sich immer näher zu uns heran.

Er legt sich auf den Boden und schließt die Augen, wenn ich ihm Healingwellen schicke und sein Fauchen, wenn wir versuchen ihm zu zeigen wo das Futter steht, weil er wohl nicht mehr sonderlich gut riechen und schmecken kann, wurde immer zarter. Heute ist es versiegt.

Sein Fell ist jetzt nicht mehr ganz so matt und in seinem zuvor so verhärmten Blick haben sich Lichterfunken gefangen. Funken, die Freude in mir entzünden und den Schatten meiner Schuld erlösen.

In diesem Moment wird mir klar: zu Geben hilft definitiv dabei (sich selbst) zu vergeben.

 

 

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