Bin ich toxisch positiv?
Ich habe in den letzten Wochen, nachdem ich ein Interview über toxische Positivität (insbesondere auch in der Coaching- und spirituellen Bubble) gelesen habe, und daraufhin mehr zu dem Thema, lange über den Gedanken gebrütet, was das für mich bedeutet.
Warum?
Ganz ehrlich:
1. Weil ich Angst hatte, dazugezählt werden zu können und defintiv nicht toxisch positiv sein will.
Und dann …
2. Weil ich z.B. missbräuchlichen Umgang mit Hoffnungsfunken und Ängsten durchaus schon begegnet bin und dafür durchaus eine Achtsamkeit geschaffen werden darf
3. Weil entsprechende Werte, Wissen und die Auseinandersetzung mit dem Thema „toxische Positivität“ etwas sind, das Fenster auf Perspektiven öffnet, die viele von uns noch aufstoßen dürfen.
Und 4., weil die Linie zwischen ehrlich Bestärken und Mut machen, oder destruktiven Druck/Hoffnungen aufbauen, manchmal vielleicht unklar verläuft.
5. Ich wollte meinen eigenen Fensterblick prüfen und das, was ich in die Welt bringe, genauso.
Mit positiver Fürsprache Mutmachen
Als ich 17 war, vor 18 Jahren, habe ich mir geschworen – sobald ich meinem eigenen Drama entkommen wäre, Menschen dabei zu unterstützen, ihr Selbstbewusstsein, ihre innere Kraft und ihren Mut zu bestärken, ihren Weg zu finden und Lebensfreude zu erleben. Lies hier mehr.
Für mich hat das viel mit Selbstverwirklichung zu tun, aber auch mit Reframing von Sichtweisen, Wissensaneignung (Verständnis für sich selbst und andere: Warum handle ich so, zum Beispiel auch aus Sicht des Nervensystems, der Biochemie, erlernten Beziehungsstilen oder durch von Generationen auf Generation übertragenes Trauma …) und natürlich einer gesunden Selbstfürsorge – in dem Maß, wie sie für den/die einzelne*n möglich sind.
Die Hacken am gutgemeinten Zuspruch
Dass dieses Maß möglicher Selbstfürsorge und vor allem Selbstverwirklichung an Herkunft und Ausgangssituation (und viele andere Faktoren) gebunden ist, ist mir klar. Auch dass sich Träume verändern können und dass sie loszulassen, manchmal genauso viel Mut verlangt, wie sie zu verfolgen. Selbst das ein bewusster Check, der Umsetzbarkeit von Träumen, durchaus Sinn macht.
Und doch weiß ich, wie kostbar Worte wie „Du schaffst das“ oder „Das ist möglich“ sein können – gerade, wenn eine bessere Realität sehr fern scheint/ist.
Dann gibt es auch gut gemeinte Mutmacher, die im Gegenüber statt Zuversicht ein Gefühl des „Nicht-Verstanden-oder-Gesehen-Werdens“ oder Versagensängste schüren (zum Beispiel: „Ich bin also ein Versager, weil der/die hat es geschafft und ich nicht.“).
Das Gegenstück zur toxischen Positivität: In "Vernunft" gekleidetes Kleinmachen
Ich komme von der anderen Seite, dem Gegenstück der „toxischen Positivität“, sozusagen, nämlich einer vielleicht als „Rationalismus“ oder „Vernunft“ getarntes Kleinmachen.
Mir haben in den meisten Jahren meines Lebens Menschen gefehlt, die an mich oder das, was für mich Freude bedeutet hat, geglaubt haben (aus Schutz oder eigenen Ängsten oder auch Unwissenheit – heute werde ich dafür umso öfter bestärkt, auch von denen, die früher an meinen Wegen gezweifelt haben).
Ich bin aufgewachsen mit einer starken (liebevoll gemeinten, aber begrenzenden) Vorsicht und „das Leben ist nun mal kein Ponyhof“-Phrasen.
Schon als Kind hatte ich mit Depressionen zu kämpfen (ohne natürlich zu wissen, dass es das gibt), und mit siebzehn bin ich schwer bulimisch geworden. Ich habe nicht daran geglaubt, älter als 20 zu werden, und ich war allein damit (weil wen hätte ich mit sowas belasten dürfen – so dachte ich).
Als ich trotzdem professionelle Hilfe gesucht habe, verdammt beschämt und mit kaum einer Spur Selbstbewusstsein, war eine der ersten Aussagen, mit denen ich konfrontiert wurde: „Du kannst nicht gesund werden. Deine Sucht wird immer da sein!“, dasselbe wurde mir über jeden einzelnen meiner Träume (die mich damals am Leben hielten) gesagt: „Von etwas Künstlerischem oder der Schriftstellerei zu leben ist nicht möglich, du musst einen vernünftigen Job machen.“
Und sicherlich habe ich irgendwann angefangen, Aussagen, die vielleicht ganz anders gemeint waren, genau auf diese, mich-niederbrechende Weise zu hören.
Diese Stimmen haben mich tief getroffen und gleichzeitig konnte ich mir nicht erlauben, sie einfach so hinzunehmen.
Die Kraft der Hoffnung und einer positiven Sicht
Gesundete Süchtige kannte ich hingegen tatsächlich nicht, aber zumindest wusste ich um Menschen, die von einer Form der Kunst lebten. Nur, sich vorzustellen, einer von diesen zu werden, war ja wohl naiv – so sagte man mir.
Ich habe mir diese Vorstellung trotzdem immer wieder erlaubt, und in diesen Momenten hatte ich Kraft.
In diesen Momenten lichteten sich die Schatten der Depression und der Suchtdruck wurde weniger.
Herausforderungen und Ängste, die Hoffnung fressen
Aber dann waren da die Herausforderungen meines Lebens und Erlebens und der Kampf mit der Sucht, der mir wie eine Hölle erschien an jedem einzelnen Tag, und mich so viel Kraft kostete, dass meine Selbstzweifel und Ängste, wieder stärker wurden als meine Zuversicht.
Mit der Perspektivenlosigkeit wuchs der Wunsch, jemand anderes als meine Hoffnung würde mir sagen: Natürlich ist das (Träume/Heilung/besseres Leben) möglich. Auch wenn es Kraft, Zeit und Geduld kostet, Rückschläge und mehr.
Warum es sich Hoffnung lohnt und Lebensglück nicht vollkommen sein muss, um vollkommen zu sein
Heute bin ich bulimie-/suchtfrei. Ich bin also der Beweis, den ich mir gewünscht habe. Ich passe auf mich auf, ernähre mich überwiegend (nicht immer, was sich auch gesund anfühlt) und gerne gesund und habe auch keinen Suchtersatz. Das brauche ich nicht mehr.
Die Depression besucht mich manchmal noch als hauchdünner Schatten, wenn es darum geht, meinen Weg wieder nach meiner Seele auszurichten oder belastende Umstände in meinem Leben als solche anzuerkennen und ihnen heilsam zu begegnen.
Ich spüre „normale“ Trauer oder Wut, wenn sich etwas mir Wichtiges als schwieriger gestaltet, als gedacht – nur weiß ich jetzt, wie ich das und auch die Depressionsschatten handle und ziemlich schnell überwinde.
Jetzt, mit Mitte dreißig, hole ich das nach, was manch andere in ihren 20ern (beruflich, sozial und finanziell) in die Wege geleitet haben. Manchmal ist das nicht leicht, so am Anfang zu stehen. Manchmal macht mich auch das wütend – all die verlorene Zeit, das neuerliche „so viel Kraft-Aufbringen müssen“, wo es doch eh schon so schwer war.
Ja, ich beginne gerade erst, meine Träume zu leben. Hier und da holpert es, gerade erst letzte Woche musste ich mich von einer Version eines Traums – mit meinen Tätowierfreunden zusammen zu arbeiten – erstmal verabschieden (who knows was noch kommt), aber ich bin auf dem Weg, Etappenziele sind erreicht.
Ich durfte mit dem Großteil der Themen meiner Vergangenheit: Beziehungen und Ereignissen Frieden schließen. Manches auch aus einem neuen Blickwinkel ganz anders (positiver) erleben. Mein Nervensystem reguliert sich in immer größeren Schritten, ich habe immer noch, sehr selten, Intrusionen, komme damit gut klar und bin hypervigilant. Ich heile mehr und mehr dieser Spuren. Aber vor allem ist da nun oft Leichtigkeit. Zwischen dem, was ist, und dem, was war, liegt ein Weltenunterschied. Dieser Unterschied ist für mich wie ein Wunder und doch Realität.
Wo sich ehrliches Mutmachen von toxischer Positivität abgrenzt
Trotzdem – da draußen gibt es sehr schreckliche Schicksale, die mir erspart blieben, Hürden, die sich meiner Vorstellungskraft entziehen und das will ich nicht ignorieren, wenn ich mit meiner Botschaft „Heilung ist möglich und wir können weit mehr Träume verwirklichen, als wir es vielleicht glauben; Lebensfreude ist möglich“, in die Welt trage.
Und da frage ich mich, wie kann ich das tun: Der Mensch sein, den ich damals gebraucht habe, ohne destruktiv mit diesen optimistischen Aussagen zu wirken, eben ohne toxische Positivität? Mit Ehrlichkeit, denke ich mir dann: Etwas zu sagen, das man wirklich erlebt, kann das toxisch sein?
Und dann gibt es da noch diese andere Sache: mir bewusst zu bleiben, dass jeder Weg sehr individuell ist. Dass meine Lösungen nicht unbedingt deine Lösungen sind und dir das auch so zu sagen.
Und schließlich, dass – auf welche Weise auch immer – jeder von uns, der „besser“ dasteht, etwas dafür tun kann, denen zu helfen, die es nicht tun. Wie, weiß ich auch nicht immer, aber ich weiß, dass ich mich damit auseinandersetze, um es - im Rahmen meiner Kapazitäten – zu tun.
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Bildquelle Titelbild: Collage erstellt mit Canva/Foto RealAKP via pixabay
Bildcollage "wie können wir stützen uns statt stürzen?" erstellt mit Canva/Hintergrundfoto aus dem Canva-Fundus/llustration und Text by Larissa Leona/Llichtermeer